Die Schweizer Eisenbahn wird kohlefrei! Die wichtigsten Meilensteine zur Elektrifizierung

Luzius Mäder, Historisches Archiv
Die Schweiz gilt als Pionierin der Elektrifizierung. Im Bereich der Eisenbahnen wurde vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jh. Unvergleichliches geleistet. Was mit relativ simplen Gleichstrom-Trambahnen begann, mündete etwa 70 Jahre später in der vollständigen Elektrifizierung aller SBB-Strecken. Folgen Sie der Chronologie dieser Meisterleistung anhand ausgewählter Meilensteine.
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«Tramwagen Ce 1/2 der Strassenbahn Vevey-Montreux-Chillon, restauriert für das Verkehrshaus», 1958, Fotodienst SBB
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«Drehstromlokomotive Ee 2/2 der Burgdorf-Thun-Bahn», ca. 1899, Schweizerische Lokomotiv- und Maschinenfabrik Winterthur (SLM)

1888: Zwischen Vevey, Montreux und dem Château de Chillon nimmt die erste elektrische Trambahn in der Schweiz ihren Betrieb auf. Mit Geschwindigkeiten zwischen 9 km/h (innerorts) und 16 km/h (ausserorts) ist man am Lac Léman noch ziemlich gemächlich unterwegs.

1899: Die erste elektrische «Vollbahn» der Schweiz, die Burgdorf-Thun-Bahn wird dem Betrieb übergeben. Diese bereits für relativ hohe Geschwindigkeiten (knapp 70 km/h) und grosse Lasten ausgelegte Bahn bildet die Grundlage für das spätere Angebot der Brown, Boveri und Cie. (BBC), in einem Versuchsbetrieb den Simplontunnel mit Drehstrom zu betreiben.

1902: Gründung der «Schweizerischen Studienkommission für elektrischen Bahnbetrieb». Auf Initiative der Privatindustrie – allen voran die BBC und die Maschinenfabrik Oerlikon (MFO) – wird ein Forschungsprojekt lanciert, das unter anderem den Leistungsbedarf für die Elektrifizierung der SBB bestimmen sowie Standorte für Wasserkraftwerke evaluieren soll.

1905: Aufnahme des Versuchsbetriebs auf der Strecke Seebach–Wettingen mit Einphasenwechselstrom durch die MFO. Die Lokomotive Nr. 1 mit dem Spitznamen Eva bewährt sich nach technischen Anpassungen und wird später zur «Urmutter der Elektrifizierung» ernannt. Damit wird erstmals in der Schweiz erfolgreich ein System mit Einphasenwechselstrom getestet.

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«Elektrische Lokomotive Nr. 1 der MFO auf der Versuchsstrecke Seebach-Wettingen», ca. 1906, Schweizerische Lokomotiv- und Maschinenfabrik Winterthur

1906: Die BBC betreibt den neu eröffneten Simplontunnel mit Drehstrom – auf eigenes Risiko. Die Lokomotiven mit auffällig weit auseinanderliegenden Stromabnehmern (Hauptgrund: zweipolige Fahrleitungen) werden vorerst von der norditalienischen Rete Adriatica gemietet. Der Drehstrombetrieb funktioniert, die SBB übernimmt nach zwei Jahren die 22 km lange Strecke zwischen Brig und Iselle sowie das Rollmaterial.

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«Reproduktion einer Abbildung (von ca. 1906) einer Simplon-Drehstromlok Fb 3/5, in Brig», ca. 1975, Alfred Gfeller

1912: In der zehn Jahre zuvor gegründeten Studienkommission «beschliesst» man nach einer Abstimmung in einem Sonderbericht folgendes: «[…] man kann daher ohne Bedenken den sicheren Schluss über die Systemfrage ziehen: Das Einphasensystem […] ist für die Verhältnisse unseres Vollbahnbetriebs technisch und wirtschaftlich als das günstigste System zu empfehlen.»

1913: Der Verwaltungsrat der SBB bewilligt den Kredit «betreffend die Einführung der elektrischen Zugförderung auf der Strecke Erstfeld–Bellinzona». Ein umfassender, weitsichtig gedachter Antrag der Generaldirektion, welcher in seiner Argumentation auf dem Sonderbericht von 1912 beruht, überzeugt die SBB-Verwaltungsratsmitglieder.

1918: Die vielen Herausforderungen, welche der Erste Weltkrieg mit sich bringt, rücken «vaterländisch-volkswirtschaftliche» Argumente in den Vordergrund. Strom als sogenannte «Weisse Kohle» soll die Abhängigkeit vom Ausland minimieren. Die SBB entscheidet sich auf der Basis des Elektrifizierungsprogramms von Emil Huber-Stockar, ihr gesamtes Netz in verschiedenen Etappen zu elektrifizieren.

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«Bau der Staumauer Pfaffensprung, Wassen, für das Kraftwerk Amsteg», ca. 1921, Fotograf unbekannt

1922/1923: Die Elektrifizierung der Gotthardstrecke inklusive aufwändige Bauten für die beiden Kraftwerke Amsteg und Ritom sind abgeschlossen. Die SBB und mit ihr die gesamte Schweiz ist stolz auf dieses erfolgreich ausgeführte Unterfangen, bei dem diverse Schwierigkeiten mit Bravour gemeistert wurden.

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«Rohrtransport mit der Standseilbahn des Kraftwerks Amsteg», ca. 1921, Fotograf unbekannt
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«Elektrifikation Gotthard: Strecke Faido–Lavorgo, Bahnarbeiter bei der Installation von Fahrleitungen», ca. 1923, SBB Kreisdirektion II

1936: Trotz Wirtschaftskrise sind die wichtigsten SBB-Linien bereits gegen Ende der Zwischenkriegszeit elektrifiziert. Nur noch jede zehnte SBB-Zugsfahrt wird zu diesem Zeitpunkt mit Dampf betrieben. Weil der elektrische Bahnbetrieb im Vergleich weniger Aufwand bedeutet, kann die SBB viele tausend Beschäftigte einsparen.

1945: Trotz des Zweiten Weltkriegs kann die SBB den Bahnbetrieb zumindest ansatzweise aufrechterhalten. Man profitiert dabei vor allem aber auch von der Elektrifizierung. Ohne auf ausländische Kohle angewiesen zu sein, fährt man dank inländisch produzierter Energie aus Wasserkraft – fast gänzlich unabhängig. Ein Mythos ist geboren!

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«Kraftwerk Rupperswil», 11.03.1947, Fotodienst SBB
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«Elektrifikationsfeier Oberglatt–Niederweningen, Einfahrt des Eröffnungszuges mit Re 4/4 I», 28.05.1960, Fotodienst SBB
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«Gerra (Gambarogno), Elektrifikationsfeier der Luino-Linie, Einheimische warten auf Eröffnungszug mit Ae 6/6 11401», 11.06.1960, Fotodienst SBB

1960: Einem Wettrennen ähnlich werden kurz nacheinander die beiden letzten dampfbetriebenen Strecken der SBB elektrifiziert. Im Mai Oberglatt–Dielsdorf–Niederweningen und im Juni Cadenazzo–Pino–Luino. «Die schwarzen Lokomotiven dampften und rauchten hier so lustig dahin, als hätte die Zeit sie vergessen.» Nun «sind [auch die letzten Dampflokomotiven] in den Machtbereich des modernen Verkehrs geraten.»

So der Sprecher des Beitrags in der Schweizer Filmwochenschau vom 17. Juni 1960.
Die Freude ist gross, ein gewaltiges, Jahrzehnte überdauerndes Bauprojekt höchster Technikkunst kommt zu einem vorläufigen Ende, das schweizerische Pionierwerk damit abgeschlossen und die Kohle «für immer» von den SBB-Strecken verbannt!

Abbildungsverzeichnis

1 - «Tramwagen Ce 1/2 der Strassenbahn Vevey-Montreux-Chillon, restauriert für das Verkehrshaus», 1958, Fotodienst SBB, Fotografie, Kunststoff-Diapositiv, 6 x 6 cm, SBB Historic C_0001_0038.

2 - «Drehstromlokomotive Ee 2/2 der Burgdorf-Thun-Bahn», ca. 1899, Schweizerische Lokomotiv- und Maschinenfabrik Winterthur (SLM), Fotografie, Abzug schwarz-weiss, 28 x 20 cm, SBB Historic F_SLM_2_525_A.

3 - «Elektrische Lokomotive Nr. 1 der Maschinenfabrik Oerlikon (MFO) auf der Versuchsstrecke Seebach-Wettingen», ca. 1906, Schweizerische Lokomotiv- und Maschinenfabrik Winterthur (SLM), Fotografie, Abzug schwarz-weiss, 28 x 20 cm, SBB Historic F_SLM_2_505_A.

4 - «Reproduktion einer Abbildung (von ca. 1906) einer Simplon-Drehstromlok Fb 3/5, in Brig», ca. 1975, Alfred Gfeller, Fotografie, Celluloseazetat-Negativ, 3,6 x 2,4 cm, SBB Historic R_7476_18.

5 - «Bau der Staumauer Pfaffensprung, Wassen, für das Kraftwerk Amsteg», ca. 1921, Fotograf unbekannt, Fotografie, Abzug schwarz-weiss, 13 x 18 cm, SBB Historic F_103_00003_04_006.

6 - «Rohrtransport mit der Standseilbahn des Kraftwerks Amsteg», ca. 1921, Fotograf unbekannt, Fotografie, Abzug schwarz-weiss, 9 x 12 cm, SBB Historic F_103_00003_07_014.

7 - «Elektrifikation Gotthard: Strecke Faido–Lavorgo, Bahnarbeiter bei der Installation von Fahrleitungen», ca. 1923, SBB Kreisdirektion II, Fotografie, Abzug schwarz-weiss, 11 x 7,5 cm, SBB Historic F_110_00008_042.

8 - «Kraftwerk Rupperswil», 11.03.1947, Fotodienst SBB, Fotografie, Negativ, 6 x 6 cm, SBB Historic R_1331_12.

9 - «Elektrifikationsfeier Oberglatt–Niederweningen, Einfahrt des Eröffnungszuges mit Re 4/4 I und Wagen 1. Klasse, Leute warten auf Perron», 28.05.1960, Fotodienst SBB, Fotografie, Kunststoff-Diapositiv, 6 x 6 cm, SBB Historic C_0002_0179.

10 - «Gerra (Gambarogno), Elektrifikationsfeier der Luino-Linie, Einheimische warten auf Eröffnungszug mit Ae 6/6 11401», 11.06.1960, Fotodienst SBB, Fotografie, Kunststoff-Diapositiv, 6 x 6 cm, SBB Historic C_0002_0159.

Quellen:

Elektrifikation: Gotthardbahn, Studien, 1904-1916, SBB Historic KDII_REG_2002/017_339.

Studienkommission: Elektrifizierung der Schweizerischen Bahnen, Sonderbericht, 1912, SBB Historic GD_BAU_SBBKW90_009_10.

Elektrischer Betrieb Allgemeines: Programm für die Elektrifikation des Bundesbahnnetzes, 1918-1927, SBB Historic GD_BAU_SBBKW90_013_03.

Schweizer Filmwochenschau: Elektrifizierung des SBB-Bahnnetzes, 17.06.1960.

Bahnen unter Strom: die Elektrifizierung der Schweizer Eisenbahnen, Kilian T. Elsasser (2020), Stämpfli Verlag Bern.